#beziehungsweise

 

Die ökumenisch verantwortete Kampagne „#beziehungsweise –jüdisch und christlich: näher als du denkst“ möchte dazu anregen, die enge Verbundenheit des Christentums mit dem Judentum wahrzunehmen. Auch und gerade im Blick auf die Feste wird die Verwurzelung des Christentums im Judentum deutlich. Mit dem Stichwort „beziehungsweise“ soll der Blick auf die aktuell gelebte jüdische Praxis in ihrer vielfältigen Ausprägung gelenkt werden. Die Kampagne ist ein Beitrag zum Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Wir sind uns bewusst: Die Betonung der Nähe ist nur unter Wahrung der Würde der Differenz möglich. Deshalb halten wir es für unverzichtbar, die Bezugnahmen auf das Judentum in christlichen Kontexten auch kritisch zu hinterfragen, Vereinnahmungstendenzen zu erkennen und zu vermeiden.

Aktuell finden wir uns dabei in einer gesellschaftlichen Situation wieder, die durch ein Erstarken von Antisemitismus und weiterer Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geprägt ist. Übergriffe gegen jüdische Bürger*innen, Hetze und Verschwörungsmythen in den Sozialen Medien nehmen weiterhin zu.

In einer respektvollen Bezugnahme auf das Judentum, die zur positiven Auseinandersetzung mit der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland anregt, will die Kampagne auch einen Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus leisten.

 

Erinnern für die Zukunft: Sachor beziehungsweise 9. November.

Die biblische Aufforderung „Sachor“ bedeutet „erinnere dich“. Am 9. November gedenken Christinnen und Christen der Pogrome von 1938, Jüdinnen und Juden gedenken am Jom HaSchoah der Ermordeten. Wir brauchen die Erinnerung an das Unrecht, um Zukunft zu gestalten – ohne Antisemitismus. Geh denken!

 

Der 9. November ist ein Gedenktag für alle jüdische Gemeinden in Deutschland, denn es gab keine Stadt und keinen Ort, wo 1938 nicht Synagogen brannten oder verwüstet, Friedhöfe geschändet, Geschäfte zerstört und Menschen ins Konzentrationslager verschleppt wurden. Das Novemberpogrom 1938 markiert das Ende einer von Juden während des ganzen Zeitalters der Emanzipation gehegten Hoffnung darauf, gleichberechtigter und willkommener Teil der deutschen Gesellschaft zu werden. Die zutage getretene Brutalität der Täter und die Gleichgültigkeit weitester Bevölkerungskreise zerstörten das deutsch-jüdische Selbstverständnis, zu diesem Land zu gehören. Über die konkreten Grausamkeiten an jüdischen Menschen und Stätten hinaus steht dieses Datum für das Ende des deutschen Judentums. Deshalb bleibt der 9. November Teil der Gedenkkultur hierzulande, selbst wenn mittlerweile mit dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar und dem Jom HaSchoah im April auch andere Daten etabliert sind.

Vielleicht wurde am 9. November als Gedenktag auch deshalb festgehalten, weil es noch halbwegs möglich ist, die Geschehnisse und den Schrecken der Reichspogromnacht zu beschreiben. Bei den nachfolgenden Ereignissen – den Deportationen, den Massenerschießungen, den Vergasungen, und der Kaltblütigkeit, mit der diese ausgeführt wurden – versagt das Denken und versagt die Sprache. Wie kann man dieser Ungeheuerlichkeiten gedenken? Und wie kann man Worte, Rituale und andere Ausdrucksformen finden, um eine Erinnerungskultur zu entwickeln?

Für das Judentum ist die Verpflichtung des „Sachor“ („Erinnere dich!“) schon in der Bibel verankert: „Gedenke, was dir Amalek getan auf dem Weg bei eurem Auszug aus Ägypten, wie sie dich unterwegs angriffen und deine Nachzügler erschlugen, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren“ (Deut 25, 17-18). Diese Verse sind Bestandteil des Schabbats „Sachor“, der jedes Jahr vor Pessach begangen wird. Über die Jahrtausende hinweg musste Israel immer wieder mit Katastrophen umgehen und Wege des Trauerns und Erinnerns finden. Die biblischen Klagelieder beschreiben und beweinen die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels im Jahr 587 v.d.Z. durch die Babylonier. Sie wurden zum Lesungstext für den Tisch’ah BeAw und nahmen so auch die Trauer um den von den Römern zerstörten Zweiten Tempel im Jahr 70 und weitere historische Unglücke auf. Vier von fünf Fastentagen im jüdischen Jahreskreis sind dem Gedenken an die Tempelzerstörungen („Churban“) gewidmet, der zum Sinnbild auch späterer, vom jüdischen Volk erlittenen Katastrophen wurde.

Die theologische Interpretation und die liturgischen Ausdrucksformen der Trauer um den Churban waren das Vorbild für die Verarbeitung von historisch erfahrenem Leid und Verfolgungen. Gedenktage wurden und werden in der Regel durch Fasten, das Lesen von Trauergesängen (Kinot), Gebete um Tröstung und den Verzicht auf freudige Anlässe wie Hochzeiten begangen. Das in jüdischer Liturgie so prominente Kaddisch ist ein Produkt der Trauerarbeit nach dem Ersten Kreuzzug (1096-99); nach den Chmelnizkij-Pogromen in Osteuropa (1648-58) entstand das Gebet El Malé Rachamim, das auch heute Teil jeder Beerdigung und Gedenkfeier ist. Schon seit dem Mittelalter sind die Memor-Bücher vieler Gemeinden überliefert, die die Namen der in den Pogromen ermordeten Mitglieder verewigten und in den Synagogen an bestimmten Schabbatot im Anschluss an den Gottesdienst vor der ganzen Gemeinde verlesen wurden. In Frankfurt/Main war es bis in die Nazizeit hinein üblich, am Schabbat vor Schawuot die Namen der im Ersten Kreuzzug hingemetzelten Männer, Frauen und Kinder zu verlesen. Dieser jahrhundertelange Brauch wurde erst in der Nachkriegszeit aufgegeben.

Warum wurde dieser Brauch dann nicht mehr fortgesetzt? Hier steht das Frankfurter Beispiel für die allgemeine Ratlosigkeit, angemessene Gedenkformen zu finden. Die Schoah ließ sich nicht mehr einordnen in die traditionellen Bewältigungsmuster, die im Kern religiöse Ausdrucksformen waren. Für das Judentum ist die Auffassung zentral, dass Gott sich den Menschen und insbesondere Israel in der Geschichte offenbart. Wohl ist Gott der Schöpfer des Universums, aber Gottes Willen erkennen wir nicht in der Natur, sondern in der Geschichte. Das historische Geschehen ist der Ort, wo sich Gott und Mensch, Gott und Israel begegnen. Die Ermordung eines Drittels des jüdischen Volkes, das Ausmaß der Zerstörung und die Auswahl der Opfer allein auf Grund ihrer Herkunft hatten das Vertrauen in die Existenz Gottes und seines besonderen Bundes mit Israel radikal erschüttert. Was konnte nun noch Sinn des jüdischen Glaubens sein? Ein Gott, der nicht eingreift, wenn jüdische Babys und Kinder getötet, unschuldige Männer und Frauen vergast, blühende Gemeinden vernichtet werden – diese Unfassbarkeit verdichtete sich zur Frage „Wo war Gott in Auschwitz?“.

Etliche Überlebende reagierten mit einer radikalen Ablehnung Gottes, andere bemühten sich um Deutungen des Unerklärbaren. Die Opfer werden mit der hebräischen Formel gewürdigt, dass sie in „Heiligung des göttlichen Namens“ („Al Kiddusch HaSchem“) gestorben seien – ein Versuch, ihnen trotz der Auslöschungsabsicht der Nazis Würde und Gestalt zu verleihen. Gelegentlich von ultraorthodoxen Gruppen vertretene Interpretationen, dass die Schoah eine Strafe für Sünden oder für den Zionismus gewesen sei, wird im Judentum weithin als unzutreffend und zynisch zurückgewiesen. Anstelle nach Gottes Gerechtigkeit solle man eher nach der Verantwortung der Menschen fragen, die die Schoah durch verbrecherisches Handeln wie auch durch Zuschauen und Schweigen verübten. Der aus Deutschland geflohene Rabbiner Emil Fackenheim beschrieb als 614. Gebot die Verpflichtung, jüdisches Leben zu stärken, an die Opfer und die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern und das Judentum nicht untergehen zu lassen. Die Gründung des Staates Israel gilt vielen als Beweis für Gottes Gegenwart in der Geschichte.

An traditionelle Gedenkformen knüpfte das israelische Oberrabbinat an, als es 1950 den 10. Tewet, einen der Trauertage um Jerusalem, zum „Tag des Kaddisch“ für die Ermordeten benannte. Seit 1959 ist Jom HaSchoah der offizielle Gedenktag des Staates Israel, sein Datum im April erinnert an den Beginn des Warschauer Ghettoaufstands und würdigt somit den militärischen und den geistigen Widerstand von Juden und Jüdinnen. Am Vorabend und am Morgen dieses Tages heulen Sirenen, die Menschen halten Schweigeminuten ab; die Entzündung von sechs Fackeln in der Gedenkstätte „Yad Vashem“, die Ehrung von Überlebenden und die Verlesung von Erinnerungsberichten sind feste Bestandteile dieser Gedenkkultur geworden. Inzwischen wird auch in jüdischen Gemeinden weltweit der Jom HaSchoah begangen. Vielerorts wird die alte jüdische Tradition der Memor-Bücher aufgenommen, indem öffentlich die Namen der Ermordeten verlesen werden. Werke der Bildenden Kunst, der Literatur, Musik, Theater und Film bemühen sich um künstlerische Formen des Gedenkens. Daneben wird historische Forschung als unverzichtbar betrachtet, um zu erinnern und die Geschichte zu verstehen. Das Gebot des „Sachor“, des Erinnerns und des Gedenkens, ist untrennbarer Bestandteil jüdischer Identität in Vergangenheit und Gegenwart, in Deutschland sicherlich noch mehr als anderswo.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg  

Zurück