ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt zeigt evangelische Besonderheiten

Seit Ende 2020 untersuchte der interdisziplinäre Forschungsverbund ForuM im Auftrag aller 20 Gliedkirchen der EKD Strukturen und Bedingungen, die sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie begünstigen. Am 25. Januar stellten die Forschenden die Ergebnisse ihrer dreijährigen Tätigkeit in Hannover vor.

Forschende von verschiedenen Universitäten und Hochschulen in Deutschland hatten in sechs Teilprojekten die Erfahrungen von Betroffenen, die institutionellen Bedingungen von Gewaltausübung in evangelischer Kirche und Diakonie, den politischen und kulturellen Kontext sowie das Ausmaß der Übergriffe und die bisherige Aufarbeitung in den Blick genommen. Während in öffentlichen Reaktionen vielfach die ermittelten oder hochgerechneten Fallzahlen im Fokus standen, richteten die Forschenden selbst den Blick stärker auf evangelische Strukturen und Rahmenbedingungen, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigen.

Sexualisierte Gewalt in evangelischen Zusammenhängen sei nicht reduzierbar auf lokale oder zeitliche Umstände, stellt die Studie fest. Vielmehr sei in allen Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt festgestellt worden. Die erlebte Gewalt habe in vielen Fällen schwere physische, psychische und soziale Folgen gehabt; Betroffene hätten zudem die Erfahrung machen müssen, von der Kirche alleingelassen oder aus sozialen Zusammenhängen verdrängt zu werden – insbesondere dann, wenn sie nicht zu Vergebung und Kooperation bereit waren.

Die ForuM-Studie zeigt eine Reihe von evangelischen Besonderheiten auf, die sexualisierte Gewalt begünstigen und die Aufarbeitung erschweren. Dazu gehören unklare Zuständigkeiten und eine „Diffusion von Verantwortung“ im evangelischen Föderalismus, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie die Selbsterzählung der eigenen Fortschrittlichkeit. Auch eine Grenzen- und Distanzlosigkeit im Umgang miteinander und das Selbstbild von „Geschwisterlichkeit“ hält die Studie als begünstigende Bedingungen fest.

Der Forschungsverbund spricht von 1.259 Beschuldigten und 2.225 Betroffenen, deren Fälle aufgrund des zur Verfügung gestellten Datenmaterials aus Landeskirchen und Diakonie in die Studie einflossen – nur die „Spitze der Spitze des Eisberges“, wie der Koordinator des Forschungsverbundes, Prof. Dr. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover, klarstellte. Klare Regeln zum Umgang mit bekannten Fällen sowie eine systematische Dokumentation fehlten bisher; Betroffene berichteten den Forschenden zudem von bewusster Verschleierung auf institutioneller oder Mitarbeitenden-Ebene.

Mit Blick in die Zukunft gibt die ForuM-Studie eine Reihe von Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Dabei müssten die spezifisch evangelischen Bedingungen in allen Bemühungen berücksichtigt werden; zudem sei eine breite öffentliche Debatte und Kommunikation sexualisierter Gewalt unter Einbeziehung der Betroffenen unerlässlich. Schutzkonzepte müssen für alle Einrichtungen in Kirche und Diakonie und für alle relevanten Bereiche passgenau und partizipativ entwickelt werden – auch das fordert die Studie ein. Nicht zuletzt geben die Forschenden Hinweise zur Aufnahme des Themenkomplexes Sexualität, Macht und Geschlecht in die Ausbildung kirchlicher Mitarbeitender.

Der Evangelisch-lutherische Kirchenkreis Burgwedel-Langenhagen bittet alle Betroffenen sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie darum, sich bei einer nichtkirchlichen oder kirchlichen Anlaufstelle zu melden. Das bundesweite „Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch“ ist unter Telefon 0800 2255530 oder auf https://www.hilfe-portal-missbrauch.de erreichbar; Kontakte der kirchlichen Stellen sind auf allen Gemeindewebseiten zu finden.

Ein gut lesbare Zusammenfassung der Ergebnisse und Empfehlungen der ForuM-Studie steht auf https://www.forum-studie.de zum Download zur Verfügung.

Zurück